Mittwoch, 26. Februar 2025

Politisch. Sehr politisch...

... und sehr, sehr, sehr viel Text!
Aber wirklich nachdenkenswert: "American Way of Lie"

QUOTE  》"Von Cord Schnibben

Nehmt euch die zehn Minuten. Mich macht das fassungslos.

THE AMERICAN WAY OF LIE
Wenn man den Samstag damit verbringt, mehrere Stunden lang fern zu sehen, sich fasziniert eine Konferenz anzuschauen, auf Phoenix, dann ist klar, dass gerade etwas Epochales passiert. Nachdem ich am späten Nachmittag den Fernseher endlich abschaltete und mir die Beine vertrat, hatte ich weiche Knie und in der Magengegend ein seltenes Angstgefühl.
Mir war in den Stunden klar geworden, dass mein Leben zukünftig anders verlaufen würde. Das Deutschland, das Europa, das ich seit mehr als einem halben Jahrhundert kenne, hatte sich verabschiedet, noch schlimmer: war verabschiedet worden.
Der neue amerikanische Vizepräsident hatte durch seine Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 450 Millionen Europäerinnen und Europäer und mich in eine bisher nicht gekannte Unsicherheit gestoßen. Wir, die USA, sagte er unverblümt, kündigen die Wertegemeinschaft mit euch, wir sehen in euch und euren Regierungen die Hauptgefahr für die westliche Demokratie, nicht in Putin undJinping, nicht in Russland und China, Noch schlimmer: Wir werden zukünftig die Kräfte in Europa unterstützen, sagte er, die wie wir an der Aushöhlung und Zerstörung eurer Demokratie arbeiten. Ihr habt nur eine Chance: Werdet so wie wir, so libertär, so verlogen, so asozial wie die USA unter meinem Boss, dem neuen Sheriff in Town.
Diese Rede und das Denken, was dahinter steckt, wird unser Leben, unsere Kultur, unsere Sicherheit grundlegend verändern, darum möchte ich in diesem sehr langen Text etwas ausholen und am Ende zu Büchern kommen, die uns helfen können zu verstehen, was gerade mit uns passiert.
Die Rede von JD Vance sollte in jeder Schule als Beispiel dafür dienen, wie man rhetorisch alle Worte so lange entleert, bis sie das Gegenteil von dem bedeuten, für das sie ursprünglich stehen. Wie der Neusprech in Orwells dystopischen Roman „1984“ verdecken die Sätze und Worte des Vizepräsidenten, worum es der neuen US-Regierung geht: Die auf Gewaltenteilung basierende amerikanische Demokratie soll durch eine imperial presidency abgelöst werden, deren Grundzüge in „Project 2025“ beschrieben sind, einem dicken Wälzer, der von verschieden rechten Think Tanks geschrieben wurde und so etwas ist wie das „1984“ des 21.Jahrhunderts. Nur: Es ist kein Roman, es ist ein Playbook.
Mit den Dekreten, die Trump im Stundentakt unterschreibt, folgt er diesem Playbook für die ersten 180 Tage und macht aus dem Regierungsapparat sein Tool der Allmacht, in dem nur noch Platz ist für unterwürfige Mitarbeiter. Hunderttausende Bedienstete haben Kündigungsmails erhalten, ganze Behörden wurden geschlossen, die Gesundheits –, Klima –, Umwelt –, Sozial–, Verbraucher – oder Entwicklungshilfethemen bearbeiten. Wen man nicht los wird, so der neue Leiter von Trumps Haushaltsbüro, den müsse man „traumatisierten“, wenn sie „morgens aufwachen, dann sollen sie nicht zur Arbeit gehen wollen“
Das staatliche Mobbing-Programm setzt eine Sturmabteilung (DOGE) um, die der Milliardär Elon Musk befehligt – eine Gang aus jungen IT Spezialisten, die statt mit Schlagstöcken mit KI-Programmen in die Behörden marschieren, sie durch Sicherheitsleute abriegeln lassen, die Webseite vom Netz nehmen und Leute rausschmeißen...
Bei DOGE geht es nicht um Effizienz, es geht um Auslöschung, die Demokratie wird in Zeitlupe ausgelöscht. Die Musk- Leute frieren Budgets ein, die ursprünglich vom Kongress beschlossen wurden; sie liqidieren alle Programme, die Diversität fördern sollen; sie kappen die Forschung für alle Themen, von denen Trump glaubt, besser Bescheid zu wissen als Experten, also Klima, Naturschutz, Mobilität, Gleichberechtigung und diverse andere Themen – alles, was als woke gilt, kommt unter die Sense der Kulturrevolution.
Kongress und Senat sind gleich geschaltet, und wer an die dritte Gewalt im Staat geglaubt, wer sich vor Gericht wehrt, muss erleben, dass sich zwar Richter gegen die Dekretator Traum stellen, dass aber JD Vance schon erklärt, die Regierung werde Urteile ignorieren und sich nicht davon abhalten lassen, „zu vollziehen, was das Volk will“.
Wenn Musk die Kontrolle über die Zahlungssysteme des Finanzministeriums
erlangt oder Trump erklärt, er werde Gesetze, die ihm missfallen, nicht
durchsetzen, setzen sie Ideen um, die in den Denkfabriken des Silicon Valley
ausgebrütet wurden. Es ist ein Putsch, der nicht mit Waffen, sondern mit
Backend-Migrationen und Datenbanklöschungen ausgeführt wird.. Beamte,
die rechtliche Einwände erheben, werden entlassen. Regierungsdatenbanken
werden auf private Server migriert. Die Entscheidungsgewalt wird von
gewählten Amtsträgern und Karrierebürokraten auf Algorithmen übertragen,
von einem kleinen Netzwerk von Eliten aus dem Silicon Valley kontrolliert.
Dies ist kein spontaner Putsch – es ist der Höhepunkt einer Ideologie, die
seit der Finanzkrise von 2008 sorgfältig entwickelt wurde und die Demokratie
selbst als veraltete Technologie betrachtet, die darauf wartet, „gestört“ zu
werden.
Der deutsche Milliardär und Inverstor Peter Thiel, einer der lautstärksten Libertären im Silicon Valley: „Ich glaube nicht mehr, dass Freiheit und Demokratie miteinander vereinbar sind.“
Die Elite des Silicon Valley geht
davon aus, dass die Demokratie ein veraltetes System ist, das mit dem
rasanten technologischen Fortschritt nicht vereinbar ist. Der letzte Schritt
besteht darin, die Idee zu akzeptieren, dass die Demokratie vollständig durch
„effizientere“ Regierungsformen ersetzt werden sollte, die oft Unternehmensstrukturen oder technologischen Systemen nachempfunden
sind. Dies ist es, was die Konvergenz von Krypto, KI und neoreaktionärer Ideologie so gefährlich macht.
Thiel hat bereits damit begonnen, Projekte zu finanzieren, die darauf abzielen, demokratischen Nationalstaaten gänzlich zu entkommen. Dazu
gehörten das „Seasteading“ – schwimmende Städte in internationalen Gewässern außerhalb staatlicher Kontrolle – und experimentelle
Regierungsmodelle, die die Wahldemokratie durch eine private, unternehmensähnliche Herrschaft ersetzen sollten. Steuern sollen freiwillig
sein, Regulierungen verschwinden. Die erfolgreichsten Menschen sollen ihre
eigenen privaten, selbstverwalteten Gemeinschaften gründen (vielleicht im
Gaza-Streifen?), während der Rest der Welt abgehängt wird. In dieser Vision
liegt die Macht nicht beim Volk, sondern bei den kompetentesten „Führungskräften“, die die Gesellschaft leiten wie ein CEO ein Unternehmen
leiten würde.
Wo bleibt die vierte Gewalt? Von Trump schon seit Jahren als „Fake Media“ delegitimiert, nun im Fall von CBS mit einer 10 Milliarden- Dollar-Klage eingeschüchtert und durch die Gleichschaltung der Aufsichtsbehörde FCC bedroht. Die wichtigste Nachrichten-Agentur AP wurde aus dem Weißen Haus gewiesen, weil sie den Golf von Mexiko zukünftig nicht „Golf von Amerika“ nennen wollte, wie von Trump angeordnet. Und da sich viele Korrespondenten dem Neusprech-Diktat der Regierung nicht unterwerfen, werden erste Stimmen aus den Reihen der Republikaner laut, man solle doch die gesamte Auslandspresse aus dem Land werfen.
In seiner Münchner Rede führte Vance beispielhaft vor, wie autokratische Propaganda funktioniert: Wirf dem anderen vor, was du selber machst, dreh alles um 180 Grad. Darum attackierte er die europäischen Demokratien mit dem Vorwurf, sie würden die Meinungsfreiheit zerstören durch ihre Kampf gegen Desinformation und Fake News, das seien Methoden der Kommunisten. Der Sturm auf das Kapitol vor vier Jahren als Volksaufstand rechtfertigen, aber Europa vorwerfen, den Willen der Völker zu missachten, das ist rhetorische Artistik, die schwindlig macht – the American Way of Lie. Die sozialen Medien, so Vance und Musk, seien die authentischen Medien, unserer Zeit, in ihnen könne sich die Meinungsfreiheit unkontrolliert entfalten.
Indem die Tech-Elite Medienfragmentierung als Waffe einsetzt, greift sie die kognitiven Grundlagen der Demokratie selbst an und sorgt dafür, dass
politische Macht nicht länger auf Debatten beruht, sondern auf der Fähigkeit, Informationsflüsse zu manipulieren.Diese Absichten wären  möglicherweise abstrakte Theorien geblieben, wenn nicht ein einzigartiges Zusammentreffen von Faktoren ihre Umsetzung plötzlich möglich gemacht
hätte. Der Aufstieg Trumps – einer Figur, die demokratischen Institutionen gegenüber feindlich eingestellt und gleichzeitig bereitwillig Tech-Oligarchen umarmt – bot eine beispiellose Gelegenheit. Hier war ein potenzieller
Autokrat, der Silicon Valleys Kritik an der Demokratie nicht nur akzeptiert, sondern verkörpert. Seine Verachtung verfassungsmäßiger Beschränkungen, seine Überzeugung, dass persönliche Loyalität wichtiger sein sollte als
institutionelle Unabhängigkeit, und seine Ansicht, dass die Regierung privaten Interessen dienen sollte, passen perfekt zu Silicon Valleys
antidemokratischem Weltbild. In Kombination mit einer beispiellosen technologischen Kontrolle über Informationsflüsse, Finanzsysteme und
soziale Netzwerke erzeugt dies einen perfekten Sturm: die Ideologie, die den Abbau der Demokratie rechtfertigt, das politische Vehikel, das dazu bereit
war, und die technologischen Möglichkeiten, dies umzusetzen.
Darum standen die Chefs der globalen Tech-Player zufrieden Spalier bei der Inauguration ihres Präsidenten und lieferten gern das Symbol-Foto für den staatsmonopolistischen KI-Kapitalismus.
Donald Trump, der angebliche starke Mann im Zentrum von allem, verfolgt kein großes ideologisches Projekt jenseits seiner eigenen Macht. Er versteht weder das System, das um ihn herum aufgebaut wird, noch die Tatsache,
dass seine eigene Präsidentschaft lediglich ein Vehikel für Kräfte ist, die in ihm einen nützlichen Rammbock gegen die Demokratie sehen. Er ist der
Unterschriftenfreak, der genüßlich all die lange vorbereiteten präsidialen Dekrete unterkritzelt.
Die Menschen um ihn herum schieben ihm die Mappen mit den Ermächtigungspapieren auf den Schreibtisch. JD Vance, der Vizepräsident,
hält die Verbindung zur Silicon-Valley-Elite. Peter Thiel, sein langjähriger Förderer, finanziert diese Vision seit über einem Jahrzehnt. Elon Musk legt
die Infrastruktur. Und die jungen Leute der Musk-Gang, die jetzt KI-Modelle in das Finanzministerium einbauen – sie lösen den öffentlichen Dienst auf,
umgehen die traditionelle Regierung und ersetzen demokratische Rechenschaftspflicht durch technologische Souveränität – arbeiten auf eine
Zukunft hin, die Trump selbst lange überdauern wird.
Es geht den Tech-Libertären darum, die Machtstrukturen grundlegend zu verändern und sie von demokratischen Institutionen auf technische Systeme zu verlagern, die von einer kleinen Elite kontrolliert werden. Was wir erleben, ist die Kulmination einer Ideologie, die über ein Jahrzehnt lang ausgebrütet, erprobt und verfeinert wurde. Zunächst argumentierten die Vordenker der
Tech-Oligarchen, die Demokratie sei ineffizient. Dann schufen sie technologische Instrumente (Kryptowährung und KI-gesteuerte
Entscheidungsfindung), um demokratische Institutionen vollständig zu
  umgehen. Jetzt experimentieren sie nicht mehr. Sie übernehmen die Kontrolle über die staatliche Infrastruktur selbst und programmieren sie in
Echtzeit um, damit sie gemäß ihrer Vision funktioniert.
Die Infrastruktur, die aufgebaut wird, dient nicht demokratischen Zwecken –
sie soll die Demokratie selbst überflüssig machen. Bei der Strategie, in den
sozialen Medien „die Zone mit Scheiße zu überfluten“, ging es nie nur darum, den Nachrichtenzyklus zu kontrollieren – es ging darum, die Bedingungen der Regierungsführung selbst neu zu gestalten. Das Ziel war nicht nur, die Leute in die Irre zu führen, sondern ein so chaotisches Umfeld
zu schaffen, dass traditionelle demokratische Entscheidungsfindung unmöglich wird. Zuerst haben sie den Journalismus gestört, indem sie die
Wahrheit durch Feeds ersetzten, die auf Engagement optimiert sind. Jetzt stören sie die Regierungsführung selbst.
Und wenn die Öffentlichkeit dann das Vertrauen in die Regierung verliert, könnte die Tech-Elite die Lösung präsentieren: eine neue, KI-gesteuerte,
algorithmisch optimierte Regierungsform, die nicht menschlicher Irrationalität, demokratischer Ineffizienz oder der Unvorhersehbarkeit von
Wahlen unterworfen wäre. So wie Social-Media-Unternehmen traditionelle Nachrichten durch algorithmische Feeds ersetzten, versuchen diese
Technokraten, demokratische Regierungsführung durch automatisierte Entscheidungsfindung zu ersetzen.
Was im Ministerium für Regierungseffizienz geschieht, ist die letzte Phase dieses Plans. Die alten demokratischen Institutionen, geschwächt durch jahrelange gezielte Destabilisierung, werden in Echtzeit durch KI-Systeme ersetzt, die nicht von gewählten Amtsträgern gesteuert werden, sondern von demselben Netzwerk von Silicon-Valley-Agenten, die die Krise überhaupt erst herbeigeführt haben. Die Männer, die das letzte Jahrzehnt damit
verbracht haben, einen Ausstieg aus der Demokratie zu planen, flüstern nicht mehr in den dunklen Ecken des Internets. Sie sind an der Macht, mit Geld, KI und einem Plan.
Alles nur eine Verschwörungstheorie? Lest nach, das Playbook ist kein Geheimnis. Wem die 900 Seiten zu viel sind, der kann sich in Lois Alarcons
(viel zu freundlicher) Zusammenfassung einen Überblick verschaffen: Lois Alarcon „Project 2025: Eine Analyse“. Wer es lieber fiktional mag, der schaue sich Richard Powers „Das globale Spiel“ an (hier die ausführliche
Besprechung lesen). Wer sich über den Aufstieg von J.D. Vance und dessen Gang informieren möchte, wird in diesem Vanity-Fair-Artikel von James Pogues fündig: Inside the New Right, Where Peter Thiel Is Placing His
Biggest Bets.
 
Ich hoffe, ich habe euch nicht erschlagen mit diesen Zeilen, kürzer konnte ich mich nicht fassen. Und sehr aufbauend ist dieser Blick in die Zukunft
auch nicht. Eine Testleserin, die am Wochenende meinen (fast fertigen) Roman las, statt sich im Fernsehen die Münchener Sicherheitskonferenz und
JD Vance anzutun, schrieb mir: „Dein Roman wirft in diesen düsteren Zeiten einen schrägen Blick zurück nach vorn, er schaut in eine Zeit, in der sich
vieles von dem entwickelte, was jetzt abgeräumt werden soll“. Und Klaas Heufer-Umlauf fand kurz und knapp: „Virtuos erzählte Zeitgeschichte - ich
bereue zum ersten Mal, ein paar Jahre zu spät geboren zu sein.“ Dazu in den
nächsten Wochen mehr." 《  UNQUOTE



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