Möglicherweise glaubt Wladimir Putin tatsächlich, was er in den vergangenen Wochen mehrmals in Kameras gezischt hat: dass ihm eine Art historische Mission übertragen worden ist, Russlands einstige Größe wiederherzustellen – und dass dazu die Unterwerfung der Ukraine notwendig ist.
Ob Wladimir Putin sich all die Geschichten, die er seinem Publikum und augenscheinlich auch sich selbst über die vermeintlich von »Nazis und Drogenabhängigen« beherrschte Ukraine wirklich selbst glaubt, ist von außen nicht zu beurteilen. Fest steht aber, dass sein innerer Kreis offenbar unbeirrt an der Überzeugung festhält, dass der Angriffskrieg gegen einen souveränen Nachbarstaat erstens gerechtfertigt und zweitens erfolgversprechend ist – aller gegenteiligen Evidenz zum Trotz. Jeder weitere Tag, den die Ukraine sich erfolgreich der russischen Aggression erwehrt, dürfte die kognitive Dissonanz und damit Putins eigene Gereiztheit weiter erhöhen. Genauso wie die Folgen der Sanktionen.
Putin fürchtet keinen Putsch der Oligarchen.
Aber er sollte seine Mitspione fürchten.
Sozusagen der Aufstand der Prätorianer-Garde - click Washington Post:
Plötzlich gibt es in Russland »Nationalverräter«, die »hier bei uns Geld verdienen, aber dort leben«, mit »einer Villa in Miami oder an der französischen Riviera«, die »nicht ohne Gänseleberpastete, Austern und sogenannte Gender-Freiheiten leben können«. Nicht alle, aber viele von diesen Leuten – der wohlhabenden Schicht also, die Putin und sein kleptokratisches Kabal in den vergangenen 20 Jahren selbst herangezogen haben – seien eben »nicht hier, nicht mit unserem Volk, nicht mit Russland«.
Dann redete ein sichtlich gereizter Putin sich erst so richtig in Rage: Diese Leute glaubten, sie gehörten »einer höheren Kaste, einer höheren Rasse« an, sie würden bei Bedarf »ihre eigene Mutter verkaufen«.
Es ist davon auszugehen, dass Putins Ausbruch über die »fünfte Kolonne des Westens« der Auftakt zu einer Säuberungswelle im eigenen Land sein wird. Die russische obere Mittelschicht, die sich in Putins gefälschter Demokratie bequem eingerichtet hat, gilt nun plötzlich kollektiv als potentieller Staatsfeind – weil sie etwas zu verlieren hat.
Nichts dringt derzeit nach außen von dem, was Putin so redet mit den wenigen Männern, mit denen er überhaupt noch spricht.
Wer ihn sehen will, muss vorher entweder 14 Tage in Quarantäne oder, die Bilder sind mittlerweile geradezu ikonisch, am anderen Ende eines sehr langen Tisches Platz nehmen.
In jedem Fall ist davon auszugehen, dass dem zunehmend paranoid und stark unter Druck stehenden Autokraten schon lange niemand mehr widerspricht.
Gerade für die hochrangigen Silowiki wird die Lage unterdessen wohl zunehmend gefährlich: Je schlechter der Krieg läuft, je stärker die Wirklichkeit in die Parallelrealität von Putins Blase eindringt, desto wütender dürfte Putin auf seine Militärs und Geheimdienstchefs werden. Dann wird sie auch Groupthink nicht vor seinem Zorn retten. Oder es läuft umgekehrt – und die Silowiki wenden sich gegen ihren Herrn.
"Putins innerer Kreis: Wer hat das Ohr des russischen Präsidenten für den Krieg in der Ukraine?" - click DW:
In den kommenden Tagen könnte sich Russlands Nukleare Position in einer Weise ändern, die darauf hindeutet, ob Putin die Vereinigten Staaten oder die Ukraine oder beide bedrohen will. Eine Möglichkeit ist, dass Russland seine strategischen Atomstreitkräfte – diejenigen, die die Vereinigten Staaten erreichen können – alarmiert, indem es beispielsweise seine straßenmobilen Interkontinentalraketen (die normalerweise in Garagen aufbewahrt werden) zerstreut oder Langstreckenbomber mit Atomwaffen belädt. Diese Aktionen würden darauf hindeuten, dass Putin versucht, Washington zu bedrohen.
Wenn er das tun würde, könnte Putin implizieren, dass er Atomwaffen einsetzen würde, wenn die Vereinigten Staaten direkt eingreifen würden, im Einklang mit einer Warnung, die er am Donnerstag bei der Ankündigung seiner Invasion (sorry, "spezielle militärische Operation") herausgegeben hat.
Doch die Vereinigten Staaten daran zu hindern, direkt in den Krieg einzutreten – was Präsident Biden bereits vor Beginn kategorisch ausgeschlossen hatte – wird keine magische Abkürzung zum Sieg über die ukrainischen Streitkräfte bieten, die bisher selbst durchgehalten haben.
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